Ausgrenzung, Ängste und Depressionen: Psychosoziale Folgen des Schielens werden unterschätzt

Berlin – Statistisch gesehen findet sich in jeder Schulklasse ein Kind, das schielt. Schielen hat jedoch nicht nur organische Auswirkungen, sondern bedeutet für die Betroffenen meist auch immensen psychosozialen Leidensdruck. Warum Schiel-Operationen so wichtig sind und wann der richtige Zeitpunkt für eine Korrektur der Fehlstellung ist, berichtet Professor Dr. med. Bettina Wabbels am 10. Oktober 2024 auf der hybriden Pressekonferenz beim Jahreskongress der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft e.V. (DOG).

Etwa vier Prozent der Bevölkerung in Deutschland schielen. Mitunter beginnen Menschen erst im Erwachsenenalter zu schielen – etwa aufgrund eines Schlaganfalls, eines Unfalls oder einer Schilddrüsenerkrankung. „Aber das ist eher selten, die meisten Schielformen beginnen im Kindesalter“, erläutert Professor Dr. med. Bettina Wabbels, Leiterin der Orthoptik, Neuro- und pädiatrische Ophthalmologie an der Universitäts-Augenklinik Bonn. Schätzungsweise jedes 25. Kind schielt. „Man findet im Prinzip in jeder Klasse ein betroffenes Kind“, so Wabbels.

Beim Schielen, auch Strabismus genannt, weicht ein Auge von der Blickachse des anderen Auges ab. Das kann Doppeltsehen, verringertes räumliches Sehen oder Kopfschmerzen, bei Kindern auch einen einseitigen Sehverlust auslösen. „Mindestens genauso gravierend sind jedoch die psychosozialen Folgen“, betont die DOG-Expertin. Studien belegen: Schielende Menschen werden von ihrer Umwelt als weniger intelligent, sympathisch, attraktiv und fleißig wahrgenommen, wodurch es zu Benachteiligungen im Alltag, Schule und Beruf sowie bei der Partnerwahl und folglich auch zu einer verringerten Lebensqualität kommen kann.1

Das schafft seelischen Leidensdruck. „Schielen kann bei Kindern und Erwachsenen zu Scham, Vermeidungsverhalten, sozialem Rückzug oder mentalen Problemen führen“, berichtet Bettina Wabbels. „Diese Aspekte des Schielens werden bisher unterschätzt, obwohl sie für die Schielenden extrem bedeutsam sind“, betont die Bonner Augenärztin. Insbesondere im Blickkontakt seien schielende Menschen häufig verunsichert. „Betroffene berichten, dass sie in der zwischenmenschlichen Kommunikation Schwierigkeiten haben; dass sie sogar beschuldigt werden, unehrlich oder unaufmerksam zu sein und nicht zuzuhören, da ihr Blick abschweife“, so Wabbels. Einige Betroffene versuchten, das Schielen durch Frisuren oder Kopfhaltungen zu kaschieren oder sehen ihrem Gegenüber gar nicht erst in die Augen, was die Interaktionsprobleme eher noch verstärke. Der Tipp der DOG-Expertin: „Schauen Sie auf die Nasenwurzel Ihres Gegenübers.“

Eine Schiel-Operation bietet Abhilfe – sie bessert nicht nur das Zusammenspiel beider Augen, sondern auch die psychosoziale Situation, indem sie zu größerer sozialer Akzeptanz und Attraktivität verhilft. Einen positiven Einfluss von Schiel-Operationen auf die Lebensqualität konnte die Universitäts-Augenklinik Bonn bereits in einer Pilotstudie belegen.2 „Nach der Schiel-Operation sanken die Symptome von Ängsten und Depressionen unter die Schwelle der Behandlungsbedürftigkeit“, resümiert Wabbels. „Viele äußerten sich extrem dankbar, dass sie diese belastenden Probleme endlich offen thematisieren konnten – sie sagten vielfach, dass das Schielen ihr ganzes Leben beeinträchtigt hätte.“

Jetzt sollen diese Faktoren erstmals in einer großen Multicenterstudie („QUALITAS – Quality of live after strabismus surgery“) unter Leitung der Universitäts-Augenklinik Bonn über die Dauer von sechs Jahren an mehr als 1000 erwachsenen Schielpatientinnen und -patienten untersucht werden. „Wir wollen unter anderem den Einfluss von Schiel-Operationen auf Lebensqualität und mentale Gesundheit messen“, so Wabbels. Zugleich biete die Identifikation von Patientinnen und Patienten mit depressiven Symptomen und Ängsten die Möglichkeit, die Betroffenen an geeignete Behandlungsmöglichkeiten weiterzuleiten.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sei es wichtig, Schiel-Operationen auch in Zukunft ausreichend zu finanzieren. Der richtige Zeitpunkt, ein Kind zu operieren, liegt meist zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr. „Kinder können erst ab dem Vorschulalter erkennen, dass ein anderes Kind schielt“, sagt Wabbels.3 Es gäbe zwar keine Studien zur Häufigkeit des Mobbings unter Kindern. „Aber das Hänseln beginnt meist im Grundschulalter“, sagt die Augenärztin. Vor Schuleintritt sollte die Fehlstellung idealerweise korrigiert sein.

Literatur:

  1. Adams GG, McBain H, MacKenzie K, Hancox J, Ezra DG, Newman SP. Is strabismus the only problem? Psychological issues surrounding strabismus surgery. J AAPOS 2016; 20: 383-386
  2. Ehlers M, Mauschitz MM, Wabbels B. Implementing strabismus-specific psychosocial questionnaires in everyday clinical practice: mental health and quality of life in the context of strabismus surgery; BMJ Open Ophthalmology 2023;8:e001334.
  3. Mojon-Azzi SM, Kunz A, Mojon DS. Strabismus and discrimination in children: are children with strabismus invited to fewer birthday parties? The British journal of ophthalmology 2011; 95: 473-476

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